Wahrhaftigkeiten

Alles kommt von selbst. Das tut es immer.

Ist das so? Diese Aussage habe ich vor einer ganzen Weile (wieder mal) in einem Artikel oder dergleichen gelesen. Und ich bin nicht einverstanden.

Diese Worte können beruhigen. Sie können beschwichtigen. Hoffnung machen. Für Vieles im Leben treffen diese Sätze sicherlich zu. Lassen wir den Dingen ihre Zeit. Kindern Zeit für ihre ganz eigene Geschwindigkeit, sich zu entwickeln. Müttern, Vätern, Eltern Zeit für ihre Elternschaft und sich selbst. Allen Menschen Zeit, um sich selbst zu erfahren und hearsuzufinden, wer sie sind.

Diese zwei Sätze können aber auch versuchen wollen, Situationen, Zustände, Realitäten, Empfindungen, Wahrnehmungen wegzuwischen, zu negieren, abzuwehren und verweigern, etwas sichtbar zu machen, etwas zur Diskussion zu stellen, Wahrhaftigkeiten wahrzunehmen und zuzulassen, um dann für Entwicklung, Fortkommen und Veränderung zu sorgen.

Ohne proaktiv (provokativ? auch das…) hinzuschauen, zu hinterfragen, zuzuhören und verstehen zu wollen, zu unterstützen, zu handeln, würde dann rein gar nichts von selber kommen, was - wenn wir das Bild der Kinder von oben wieder als Beispiel nehmen - über das absolut Minimale an lebenserhaltenen Funktionen hinaus geht.

Ohne, dass sichtbar gemacht wird, was Menschen in unserer Gesellschaft daran hindert, dass alles von selbst kommen wird, was bereits angelegt ist, wird keine wahrhafte Entwicklung und werden keine Veränderungen erreicht. Mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Teilhabe, mehr Ehrlichkeit, ob wir da von Ungerechtigkeiten aufgrund von Klassen- oder Geschlechterzugehörigkeiten sprechen, oder davon, dass Familie noch immer viel zu sehr als private Angelegenheit betrachtet wird - all das wird nicht erreicht, wenn die Probleme nicht angesprochen, gezeigt, wahrgenommen werden.

Es müssen Bewusstsein, Räume und Rahmenbedingungen geschaffen werden, die alle Menschen mitdenken. Dann kann unsere Gesellschaft gesunden.

Wahrhaftigkeiten ist ein Langfrist-Projekt, das zeigt, was wirklich da ist - Herausforderungen von Elternschaft, ungeschönte Familien- und Lebensrealitäten, strukturelle Ungerechtigkeiten.

Die individuelle Scham ist machtvoll und kann zu viel Leid führen, wenn auf gesellschaftlicher, auf kollektiver Ebene immer noch gesagt wird: alles kommt von selbst. Das tut es immer.